Stolperstein Westfälische Str. 23

Westfälische Str. 23

Hausansicht Westfälische Str. 23

Der Stolperstein für Irene Glaser wurde am 7. April 2022 verlegt.

Stolperstein Irene Glaser Westfälische Straße 24

Stolperstein Irene Glaser

HIER WOHNTE
IRENE GLASER
GEB. BLUMENTHAL
JG. 1920
DEPORTIERT 25.1.1942
RIGA
1944 STUTTHOF
ERMORDET 13.1.1945

Irene Glaser, geb. Blumenthal, wurde am 14. Januar 1920 in Berlin geboren und wuchs in einer wohlhabenden jüdischen Familie in Berlin-Wilmersdorf auf.

Geburtsverkündung Irene Glaser.

Geburtsverkündung Irene Glaser.

Irenes Vater, Erich Blumenthal, Jahrgang 1893, hatte seinen Abschluss an der Universität von Königsberg gemacht, nachdem er im 1. Weltkrieg gedient hatte und verwundet worden war. Später zog er nach Berlin, um dort weiter zu studieren und seinen Doktor in Jura zu erlangen.
Ihre Mutter Charlotte, geb. Leske, geboren am 13. Oktober 1895, stammte aus einer liberalen, wohlhabenden jüdischen Familie in Berlin. Nach Irene hatte das Paar noch eine weitere Tochter, Eva, die meine Mutter werden würde, nachdem sie nach dem Krieg Martin Selig heiratete. Eva liebte Irene über alles, die beiden waren sich sehr nahe.
Im Laufe der Jahre richtete sich die Familie in einem komfortablen Leben ein, sie gehörte zur Mittelklasse, besaß einen Flügel und genoss das großzügige und lebendige kulturelle Leben der zwanziger und dreißiger Jahre in Berlin. Ihre zuletzt freiwillig gewählte Wohnadresse, bevor sie enteignet wurde, war die Jenaer Str. 3 in Wilmersdorf.

Irene Glaser und ihre jüngere Schwester Eva.

Irene Glaser und ihre jüngere Schwester Eva.

Am 4. April 1938 heiratete Irene Paul Glaser, einen Handelsvertreter, der 14 Jahre älter war als sie. Sie verließ ihr Elternhaus und zog mit Paul in die Laubacher Str. 39 in Wilmersdorf. 1940 jedoch reichte sie die Scheidung ein, ihr Mann wollte zuerst nicht zustimmen, gab aber schließlich nach – im März 1941 wurde die Scheidung ausgesprochen. Bis dahin lebte Irene alleine, zur Untermiete, zuletzt in der Westfälischen Straße 23 in Wilmersdorf (bei Frieda Hirschlaff).

Irene Glaser, ungefähr 1940.

Irene Glaser, ungefähr 1940.

Mittlerweile hatte Irenes Familie sich um die Emigration in die USA bemüht. Ein Bruder ihres Vaters, Danny, hatte Deutschland bereits 1936 verlassen und war nach Chile emigriert. Einem weiteren Bruder, Martin, war Anfang 1938 die Ausreise nach New York gelungen, zusammen mit seiner Tochter Dorit, der Charlotte, Irenes Mutter, sehr nahestand. Die Eltern Blumenthal mit ihrer Tochter Eva schafften es nicht, Visa zu bekommen. Und so wurden sie am 1. Januar 1939 gezwungen, ihre große Wohnung zu verlassen und stattdessen zur Untermiete in die Wiesener Str. 33 in Schöneberg umzuziehen.

Glücklicherweise, trotz aller widrigen Umstände, gelang es Erich, Charlotte und Eva Blumenthal doch noch, Berlin im August 1939 zu verlassen. Möglicherweise mit der Hilfe eines Berliner Polizeibeamten, den Erich noch aus seiner aktiven Zeit als Rechtsanwalt kannte. Sie schafften es nach Melbourne mit gerade einmal 200 Pfund. Ihre Tochter Irene mit Ehemann Paul Glaser sollte nachkommen, sobald sie nach ihrer Ankunft die nötigen Mittel mit Hilfe ihres Sponsors Mr. Henly aus Geelong, Australien aufgetrieben hätten. Im September jedoch brach der Krieg aus, es war zu spät und ab jetzt unmöglich, aus Deutschland herauszukommen.

Zwar gelang es vielen Menschen auch nach Ausbruch des Krieges, aus Deutschland zu flüchten. Irene hatte ihren früheren Berliner Rabbi Swarensky, der bereits in die USA emigriert war, um Hilfe gebeten, er schien aber nichts mehr für sie tun zu können.

In der Zeit zwischen Anfang 1940 und März 1941 schickte Irene ihrem Onkel Atty Leske in Amsterdam 14 handgeschriebene Postkarten. Es gibt sie noch, sie ließen den Überlebenden und auch uns heute die junge Frau lebendig werden, indem sie uns einen kleinen Einblick gewähren, wie mutig und selbstbestimmt sie ein eigenes, wenn auch kurzes, Leben für sich gewählt hat.
Darin schrieb sie, dass ihr im Laufe des Jahres 1940 klar wurde, dass sie ihren Mann Paul nie wirklich geliebt habe und sich scheiden lassen wollte. Dazu musste sie einige Hürden überwinden, Paul wollte erst nicht einwilligen, aber schließlich gab er nach und die Scheidung wurde am 19. März 1941 ausgesprochen. An ihren Onkel schrieb sie am 28.12.1940: “Ich bin glücklich, allein zu sein. Mein neues Leben begann gerade heute vor 2 Wochen, ich möchte nie wieder zurück. Ich freue mich, dass du mir keine moralischen Predigten gehalten hast und einfach Verständnis für mich hast”.

Postkarte an Onkel Atty, 28.12.1940

Postkarte an Onkel Atty, 28.12.1940

Irene war eine sehr intelligente junge Frau, sie las viel und ging sehr gern ins Theater. In Anbetracht der Umstände in diesen Jahren, dazu ganz ohne Familie in ihrer Nähe, war es sehr mutig von ihr, sich scheiden zu lassen und ganz auf sich selbst gestellt zu sein.

In späteren Karten schrieb sie, dass sie studieren wollte und auf ein Stipendium von der Jüdischen Gemeinde hoffte. Anfang 1941 machte sie ihr Abitur. Sie gab Privatunterricht, um über die Runden zu kommen, das Leben wurde jedoch immer schwieriger. Ihre letzte Karte stammt aus dem März 1941. Von da ab, bis zu ihrer Deportation, wissen wir nichts mehr über sie.

Das Rote Kreuz schickte am 21. Januar 1942, über das Australische Rote Kreuz, eine Nachricht von Irene an ihren Vater Erich Blumenthal an seine Adresse in Melbourne: “Meine Geliebten, reise morgen ab. Weiss nicht, wann wieder Nachricht möglich. Seid beruhigt, ich gehe mit jemand zusammen, der mir nahe. Lebt wohl, vergesst mich nie.” Das war die letzte Nachricht von Irene.

Rot-Kreuz-Telegramm 1942.

Rot-Kreuz-Telegramm 1942.

Sie musste sich an der Sammelstelle Synagoge Levetzowstraße in Berlin-Moabit einfinden, am 25. Januar 1942 schließlich wurde sie zusammen mit weiteren 1.043 Menschen vom S-Bahnhof Grunewald aus in das Ghetto Riga deportiert, 5 Tage dauerte der Transport.

Ihre Familie suchte Irene während und unmittelbar nach dem Krieg. Von einem namentlich nicht bekannten Kriegsgefangenen erhielt Erich Mitte 1945 einen Brief (mit Datum September 1944), demzufolge sie noch am Leben war. Ihr Vater bemühte sich im August 1946 um weitere Informationen vom American Joint Distribution Committee (JDC), das Suchanfragen zu Displaced Persons bearbeitete, auch vom Roten Kreuz und später vom ITS, dem Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen, heute Arolsen Archives (zuständig für die Beantwortung, Aufbewahrung und Erschließung von Suchanfragen und Dokumenten).

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Familie schon von Irenes Deportation erfahren. Fenia Rosenbaum war zusammen mit Irene im Ghetto Riga, sie hatte überlebt und war 1946 nach Australien emigriert, um ihren Ehemann Ignacz wiederzusehen, der von der britischen Regierung auf dem berühmt-berüchtigten Truppentransporter Dunera verschifft und in Australien interniert worden war, wie so viele andere Deutsche, darunter auch mein zukünftiger Vater, der nach dem Krieg meine spätere Mutter Eva Blumenthal heiraten würde. Erich Blumenthal starb im Dezember 1946, ohne etwas über das Schicksal seiner Tochter erfahren zu haben.

1956, auf der Grundlage einer Haftbestätigung, die der ITS Arolsen über das Rote Kreuz dokumentiert hatte, machte Charlotte Blumenthal, Irenes Mutter, Anspruch auf Entschädigung durch die Bundesregierung geltend. Zu diesem Zeitpunkt war aus einer Transportliste der Gestapo eindeutig hervorgegangen, dass Irene am 25. Januar 1942 mit dem 10. Ost-Transport von Berlin in das Ghetto Riga deportiert worden war. Aber erst 1968 bestätigte der ITS gegenüber der Deutschen Entschädigungsbehörde, dass Irene zweifelsfrei am 9. August 1944 von Riga ins KZ Stutthof überstellt worden war. Laut Totenschein, ausgestellt vom KZ Stutthof, war die Studentin Irene Glaser am 13. Januar 1945 an “Herz- und allgemeiner Körperschwäche” gestorben, einen Tag vor ihrem 25. Geburtstag.

Totenschein Irene Glaser, KZ Stutthof

Totenschein Irene Glaser, KZ Stutthof

Irene hatte 3 Jahre in Konzentrationslagern überlebt, sie muss unglaublich tapfer gewesen sein, um all die Strapazen so lange auszuhalten, aber dann starb sie nur ein paar Tage, bevor das KZ von der SS evakuiert wurde und nur wenige Monate, bevor der Krieg zu Ende war.

Text: David Selig, Sohn von Martin und Eva Selig geb. Blumenthal, Irenes jüngerer Schwester
Paris, November 2022.

Originalversion der englischen Biographie: (hier der Link auf die Version EN…)
Übersetzung: Gisela Just

Quellen:
Informationen der Familie
Arolson Archives
Yad Vashem
Landesarchiv Berlin

Originalversion der englischen Biographie übersetzt von Gisela Just:

  • EN Bio Irene Glaser.

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