Stolpersteine Rudolstädter Str. 011

Hausansicht Rudolstaedter Straße 11

Hausansicht Rudolstaedter Straße 11

Die Stolpersteine für Thekla und Günter Wolle wurden am 23.3.2023 verlegt.

Stolperstein Thekla Wolle

Stolperstein Thekla Wolle

HIER WOHNTE
THEKLA WOLLE
GEB. DAVID
JG. 1879
DEPORTIERT 26.9.1942
ERMORDET IN
RAASIKU

Thekla Wolle, geborene David, kam am 15. Juni 1879 in Bonn zur Welt. Ihr Vater, Moritz David, besaß ein gutgehendes Textilgeschäft im Zentrum von Bonn. Die Familie war wohlhabend und wohltätig, folglich auch sehr angesehen in der Stadt. Sie bewohnte ein schönes Haus mit Garten an der Kaiserstraße, hinter der heute die Bahnstrecke von Koblenz über Bonn nach Köln verläuft. Das Gebäude ist erhalten, hat aber an Glanz verloren und mehrfach den Besitzer gewechselt. Zusammen mit ihren Schwestern Clara, Martha und Johanna verlebte Thekla dort eine glückliche Kindheit. Manchmal, vielleicht im Karneval, sollen die Mädchen auf dem Tisch getanzt haben. So erzählt man es sich in der Familie. Es war eben ein ganz typisches rheinisches Milieu, und das schon über Generationen hinweg. Ihr Leben lang behielt Thekla den Bonner Akzent bei und sprach zum Beispiel, wenn’s draußen fror, auch von ihren „kal Föös“.

Nach Berlin kam sie durch die Heirat mit Gustav Wolle, einem der vielen Konfektionäre in der Hauptstadt, dessen Firma Damenmäntel herstellte. Wahrscheinlich zählte er zu Moritz Davids Lieferanten und machte so die Bekanntschaft der Familie und der ansehnlichen Töchter. Thekla war besonders hübsch, mit großen, dunklen Augen, schwarzen Haaren, sehr weiblich. Wer immer sie gekannt hat, wusste stets nur Gutes zu berichten. Sie wurde von allen geachtet und geliebt, am Ende als Mittelpunkt einer Familie mit drei erwachsenen Kindern, zwei Söhnen, einer Tochter und zwei Enkeln.

Ihr Mann war 1926 an einer Gallenoperation gestorben, damals noch ein hochriskantes Unternehmen. Als Berater stand ihr nun Gustavs Cousin, Dr. Max Marcuse zur Seite, ein renommierter Berliner Dermatologe und Mitbegründer des Instituts für Sexualwissenschaften. Ein äußerst intelligenter Mann, der die Gefährlichkeit der Situation sofort erkannte und 1933, kurz nach der Machtergreifung der Nazis, mit seinem Sohn Hans, dem späteren israelischen Botschafter in Bonn (von 1974 bis 1981, nun unter dem Namen Yohanan Meroz) nach Palästina auswanderte. Er beschwor Thekla nachzukommen. Und in der Tat reiste sie in den dreißiger Jahren nach Tel Aviv, kam aber zurück mit der Bemerkung, „unter den Wilden könne sie nicht leben“. Der wahre Grund für die Rückkehr war aber wohl, dass sich nur Hans, der älteste Sohn, nach Brasilien aufgemacht und in Sicherheit gebracht hatte. Sohn Günter und Tochter Edith mit der Enkelin Sibylle lebten weiterhin in Berlin. Edith genoss zwar noch einen gewissen Schutz, weil sie mit einem „Arier“ verheiratet war, also in einer sogenannten Mischehe lebte, musste sich am Ende aber auch verstecken.

Günter war natürlich höchst gefährdet, und gewiss hätte seine Mutter in Tel Aviv keine ruhige Sekunde gehabt, solange ihre Nachkommen in Berlin in Lebensgefahr schwebten. Viel zu spät begriff sie, in welch tödlicher Gefahr sie war. Der Preis für ihre wirkungslose Fürsorge war hoch. Am 24. September 1942, drei Monate nach der Geburt ihres zweiten Enkelkindes, Peter Georg, wurde sie abgeholt, am 3. Oktober im Viehwagen nach Riga verfrachtet, von dort nach Reval weitertransportiert und in irgendeinem lettischen Abseits nackt in eine Gruppe geschossen. Sie war 63 Jahre alt. Unmittelbar nach ihrer Deportation fuhren zwei Lastwagen vor ihrer Wohnung in der Rudolstädter Straße 11 vor, auf denen Packer Theklas gesamtes Hab und Gut stapelten. Es ging um staatlich verordneten Massenmord. Aber auch um Raub.

Stolperstein Günter Wolle

Stolperstein Günter Wolle

HIER WOHNTE
GÜNTER WOLLE
JG. 1912
DEPORTIERT 29.1.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET 6.2.1943

Günter Wolle wurde am 19. Mai 1912 in Berlin geboren. Er war das jüngste der drei Kinder von Thekla und Gustav Wolle. Hans und Edith, seine beiden älteren Geschwister, überlebten. Er war der einzige aus dieser Generation, dem das nicht gelang. Edith und ihre Kinder entkamen der Verfolgung auf einem schwäbischen Dorf, geschützt von der ganzen Dorfgemeinschaft unter Führung des evangelischen Pfarrers. Hans, von Beruf Elektroingenieur, war gerade noch rechtzeitig nach Brasilien ausgewandert. Natürlich wollte er seinen jüngeren Bruder mitnehmen, forderte ihn auch immer wieder auf nachzukommen, doch Günter wollte nur in ein englischsprachiges Land auswandern. Lange bemühte er sich um ein Visum für Australien. Vergeblich.

Erst als sich die Lage immer hoffnungsloser entwickelte, versuchte er doch noch, dem Bruder zu folgen. Der hatte schon die Schiffsreise im Voraus bezahlt. Aber Brasilien nahm niemanden mehr auf, und Günter überwies die Kosten zurück.

Zu Beginn des sogenannten Dritten Reiches arbeitete Günter Wolle noch als freischaffender Werbegrafiker. Jüdische Firmen versahen ihn reichlich mit Aufträgen. Doch von 1941 an war er nur noch der sterntragende Outlaw, ein Untermensch, Sklave der Herrenrasse, ein Künstler, herabgestuft zum Zwangsarbeiter auf der Straße und als Kohleschipper am Bahnhof Halensee, wozu er körperlich kaum in der Lage war. Solange seine Mutter Thekla noch nicht deportiert war, lebte er bei ihr in der Rudolstädter Straße 11, danach in einem Versteck in der Nähe. Er war ein junger Mann, doch wegen der politischen Umstände ganz auf die Familie zurückgeworfen. Den Juden waren alle Möglichkeiten und Rechte schon genommen, bevor man ihnen auch das Leben nahm. Seine Vergnügungen beschränkten sich folglich auf das Bridgespiel mit Schwester und Schwager, auf das jahrelang über den Atlantik hinweg brieflich fortgeführte Schachspiel mit Bruder Hans und auf die Besuche der kleinen Nichte Sibylle. Später saß sie während der Luftangriffe in der Wohnung von Schwester und Schwager auf seinem Schoß, und gemeinsam warteten sie zitternd bis die Sirenen Entwarnung gaben. Als Jude durfte er nicht in den Luftschutzkeller und hätte dort auch erkannt werden können. Aber irgendjemand muss Günter Wolle dann doch verraten haben. Am 29. Januar 1943 wurde er nach Auschwitz verschleppt. Ein anonymer Anrufer richtete dem Schwager aus: Herr Wolle lasse noch einmal vielmals grüßen.

Text: Sibylle Krause–Burger nach ihrem Buch „Herr Wolle lässt nochmal schön grüßen“ und privaten Briefen.