Stolpersteine Giesebrechtstraße 17

Hauseingang Giesebrechtstr. 17

Hauseingang Giesebrechtstr. 17

Vor dem Haus Giesebrechtstraße 17 wurden am 08.05.2011 die Stolpersteine für Else Elkisch, Ernestine Katz, Selma Lichtenstein, Elise Misch, Josef Wysocki verlegt.

Stolperstein für Else Elkisch

Stolperstein für Else Elkisch

HIER WOHNTE
ELSE ELKISCH
GEB. KOHN
JG. 1870
DEPORTIERT 14.9.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 6.3.1943

Elsbeth oder auch Else kam in Neisse (heute polnisch Nysa) am 14. März 1870 als vierte Tochter des Kaufmannes Michael Jechiel Kohn und seiner Frau Ida geb. Luft auf die Welt. Sie hatte neben den drei älteren Schwestern Adelheid, Rosa und Martha noch vier jüngere Brüder, Willi, Erich, Paul und Arnold. Paul starb im Kindesalter. Der Vater Michael Kohn hatte ein Geschäft für Galanterie-, Glas-, Porzellan-, Spiel- und Lederwaren am Ring (Buttermarkt) Nr. 12 und 13. Über Elses Kindheit und Jugend in Neisse wissen wir leider nichts. 1910, als der Vater starb, lebten noch neben der Mutter mindestens zwei der Brüder in dem ostpreußischen Ort.

Anzeige Kohn – Adressbuch Neisse 1908

Else war zu dem Zeitpunkt schon längst nicht mehr in Neisse. 1891 hatte sie den königlichen Regierungs-Baumeister Robert Julius Elkisch geheiratet. Mit ihm zog sie nach Charlottenburg, wo sie ihre ersten beiden Kinder bekam: 1892 Konrad Julius und 1894 Charlotte Margarethe. Die beiden weiteren Kinder, Käthe und Edith, kamen 1896 und 1897 in Angerburg, heute polnisch Węgorzewo, zur Welt. Offenbar wurde der königliche Baumeister mehrmals versetzt, denn Anfang des Jahrhunderts war er Bauinspektor und Baurat im sächsischen Delitzsch. Hier bekam Else im September 1900 noch eine Tochter, Susanne. Von Delitsch wurde Robert Elkisch zum 1. März 1903 nach Rixdorf in Berlin versetzt, wo er mehrere Jahre in der dortigen Kaiser-Friedrich-Straße 217 wohnte. 1906 wurde er vermutlich nach Charlottenburg versetzt, denn die Familie bezog eine Wohnung im Haus Nummer 5 der Giesebrechtstraße.

Erst 1917 nahm Robert Elkisch eine Wohnung in der gediegenen Wohnanlage schräg gegenüber, Giesebrechtstraße 17. Er war sichtlich wohlhabend und fühlte sich dem gebildeten Bürgertum zugehörig. Beide Eheleute bezeichneten sich als Dissidenten was die Religion anbelangte, die Kinder waren evangelisch getauft. Die ganze Familie scheint sehr kunstaffin gewesen zu sein. Robert galt als Kunstsammler, Konrad wurde Architekt und Bildhauer, Charlotte heiratete den Maler und Graphiker Ernst Böhm und Käthe besuchte die Unterrichtsanstalt des Staatlichen Kunstgewerbemuseums und verdiente sich nach ihrer Scheidung 1929 unter dem Namen Brandt-Elkisch weiterhin ihren Lebensunterhalt als Kunstgewerblerin. Auch Susanne und Edith heirateten, über ihre Ehemänner Robert Grosse und Ernest Burns konnte nichts ermittelt werden.

Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, half es Robert und Else Elkisch wenig, dass sie sich selbst nicht zu der Jüdischen Gemeinde zugehörig fühlten. Nach den Nürnberger Gesetzen galten sie als Juden und hatten in den folgenden Jahren die stetig wachsende Diskriminierung und Ausgrenzung von Juden zu erleiden. Robert war schon längst pensioniert, konnte also nicht mehr als Beamter in den Ruhestand versetzt werden, seine Pensionsansprüche wurden aber sicherlich, wie die von anderen Juden, mehrmals gekürzt.

Diskriminierende und entwürdigende Maßnahmen, mit dem Ziel, Juden zur Auswanderung zu treiben oder sie gänzlich aus dem wirtschaftlichen und öffentlichen Leben auszuschließen, nahmen ständig zu, trotz relativer Zurückhaltung im Olympiajahr. Ob Richard und Else eine Auswanderung in Aussicht genommen hatten, wissen wir nicht. Möglicherweise wurden sie anfangs nicht zu sehr behelligt, fühlten sich zu alt und/oder hofften, dass es nicht so schlimm werden würde. Aber nach den Pogromen vom November 1938 häuften sich die antisemitischen Verordnungen in rasanter Folge. Juden hatten Sonderabgaben zu leisten, über ihr Vermögen konnten sie bald nicht mehr frei verfügen, von ihren Konten durften sie nur durch „Sicherungsanordnung“ festgelegte Beträge für ein Existenzminimum abheben. Schmuck und Silber durften sie nicht mehr kaufen oder verkaufen, im Februar 1939 mussten sie dann solche Wertgegenstände für einen symbolischen Preis bei der staatlichen Pfandleihstelle abgeben. Juden durften sich praktisch nicht mehr öffentlich zeigen, nicht in Theatern oder Kinos, nicht in bestimmten „Bannbezirken und -straßen“, nicht zu bestimmten Tageszeiten. Radio, Telefon, Führerschein und anderes mehr war ihnen verboten. Bei der Volkszählung im Mai 1939 mussten sie sich in gesonderten Ergänzungskarten eintragen lassen. Viele Juden wurden gezwungen, ihre Wohnung aufzugeben und beengt bei anderen zur Untermiete zu wohnen. Robert Elkisch konnte zwar seine Wohnung behalten, musste aber mindestens einen Untermieter aufnehmen, Josef Wysocki.

Entrechtet, gedemütigt und praktisch verarmt, starb der 88-jährige Robert Elkisch am 6. Januar 1941, laut Sterbeurkunde an „Gehirnlähmung, Lungenentzündung und Herzschwäche“ in seiner Wohnung. Ihm blieb der Höhepunkt der NS-Judenpolitik erspart: Deportation und Vernichtung. Nach Roberts Tod wurde Else gezwungen, die Wohnung aufzugeben und zusammen mit ihrer Tochter Käthe zur Untermiete bei Sally Rosenthal in die Dahlmannstraße 1 umzuziehen.

Schließlich wurde Else für die Deportation in das angebliche „Altersghetto“ Theresienstadt bestimmt. Ab Juni 1942 wurden jeweils 100 Personen dorthin gefahren, die zuvor in dem eigens dazu umfunktionierten jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße 26 „gesammelt“ wurden. Im August, September und Oktober des Jahres fanden allerdings drei „große Alterstransporte“ statt, mit jeweils 1000 Menschen. Hierfür reichte die Kapazität des Sammellagers in der Großen Hamburger Straße nicht aus, und es wurden provisorische Sammelstellen in anderen jüdischen Heimen eingerichtet. Anfang September musste Elke Elkisch, ihres letzten Besitzes beraubt, in die Sammelstelle in der Gerlacher Straße 18-21 in der Nähe des Alexanderplatzes gehen, in die auch ihre ehemaligen Nachbarinnen aus der Giesebrechtstraße 17, Ernestine Katz und Elise Misch, eingewiesen worden waren. Die drei Frauen wurden mit weiteren 997 Menschen am 14. September 1942 nach Theresienstadt deportiert.

Weit davon entfernt, eine einigermaßen erträgliche Altersstätte zu sein, war Theresienstadt ein Horror, in dem Krankheiten und Seuchen infolge von Hunger, Kälte und den katastrophalen Hygienebedingungen in den völlig überfüllten Unterkünften grassierten. Etwa ein Viertel der Insassen starben an diesen Umständen. Möglich, dass Else trotz der chaotischen Lage in Theresienstadt ihren Bruder Erich dort finden konnte. Der war im Juli 1942 von Breslau aus dorthin deportiert worden und konnte vielleicht seiner Schwester etwas Mut zusprechen. Den anschließenden Winter überlebte Else jedoch nur knapp. Am 6. März 1943 starb sie, laut „Todesfallanzeige“ an Darmentzündung und Herzschwäche – wohl typische Folgen der erbärmlichen Lebensumstände.

Erich Kohn starb in Theresienstadt, einen Monat nach seiner Schwester, am 5. April 1943. Elses Kinder sind in keinem Gedenkbuch verzeichnet, so dass man annehmen kann, dass sie den Nazischergen entkommen konnten. Charlotte war wohl durch ihren nichtjüdischen Ehemann geschützt, allerdings wurde Ernst Böhm wegen seiner jüdischen Frau 1937 die Lehrbefugnis entzogen. Bis dahin war er Professor an den Vereinigten Staatsschulen für Freie und Angewandte Kunst in Berlin-Charlottenburg gewesen. Nach dem Krieg lehrte er wieder an der Hochschule für Bildende Kunst in Berlin-Charlottenburg (heute Universität der Künste Berlin). Edith emigrierte bereits 1930 in die USA und heiratete dort. Schon 1920 war Konrad nach Mexiko ausgewandert. Susannes Schicksal kennen wir nicht. Von Käthe wissen wir, dass sie bei der Volkszählung 1939 in der Giesebrechtstraße 17 registriert wurde, mit ihrer Mutter in die Dahlmannstraße ziehen musste und zur Zwangsarbeit verpflichtet war. Unklar ist, ob sie ebenfalls deportiert wurde und überlebte, oder ob sie untertauchen konnte. Möglicherweise half ihr ihr geschiedener Mann. Günther Brandt war als Landgerichtsrat 1933 entlassen worden, aber als „Mischling 1. Grades“ nach der NS-Terminologie war er von der Deportation ausgenommen. Er schloss sich der Widerstandsgruppe „Onkel Emil“ an, die von der Deportation bedrohte Juden versteckte und unterstützte. Die Gruppe wurde bis Kriegsende nicht entdeckt. Käthes Rettung währte aber nicht lange. Sie starb in Berlin im Juli 1945 an einem Tumor.

Biografische Zusammenstellung

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Weitere Quellen

Adressbuch Neisse;
https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/;;
Delitzscher Stadtchronik:
https://stadtarchiv-delitzsch.de/stadtgeschichte
Akim Jah, Die Berliner Sammellager im Kontext der „Judendeportationen“ 1941–1945, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Nr. 3/2013, S. 211-231

Stolperstein für Ernestine Katz

Stolperstein für Ernestine Katz

HIER WOHNTE
ERNESTINE KATZ
GEB. BLAUSTEIN
JG. 1860
DEPORTIERT 14.9.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 14.12.1942

Ernestine Katz wurde als Ernestine Blaustein am 15. August 1860 in Lomza (polnisch Łomża), 150 km nordöstlich von Warschau, geboren. Als Ernestine auf die Welt kam, gehörte Lomza zu dem sog. „Kongresspolen“, das 1815 auf dem Wiener Kongress konstituiert wurde und das dem zaristischen Russland unterstand. Schon seit dem 16. Jahrhundert hatte sich die Stadt Lomza zu einem bedeutendem jüdischen Zentrum entwickelt.

Ernestines Eltern waren Abraham und Lina Blaustein. Sie hatte eine 1874 geborene Schwester Clara, ob sie weitere Geschwister hatte, war leider nicht zu ermitteln. Abraham Blaustein, der aus Riga stammte, hatte 1860 in Lomza eine Stelle als Kantor inne. Später war er auch Kantor in Vilna und Mitte der 1870er Jahre übte er diesen Beruf in Bromberg aus. Hier lebte er mit seiner Familie in der Mauerstraße 5. 1877 – Ernestine war 17 Jahre alt – wurde er zum Oberkantor von Bromberg ernannt. Von 1879 an gab er die Zeitschrift „Der jüdische Cantor“ heraus und engagierte sich auch bei der Gründung einer Standesvertretung jüdischer Kantoren.

Ihr Elternhaus verließ Ernestine, als sie 1881 den drei Jahre älteren Lehrer Max Katz heiratete. Wahrscheinlich verließ sie mit ihm auch Bromberg. Im Juni 1883 kam ihr ältester Sohn Siegfried Salomon in Preußisch Friedland, Kreis Schlochau (heute Debrzno) zur Welt. Max Katz wurde als Lehrer mehrmals versetzt und so wurde 1887 der zweite Sohn Arthur in Antonienhütte, Kreis Kattowitz (heute Wirek) geboren. Zehn Jahre später bekam Ernestine ihren dritten Sohn Hans Georg in Gnesen, heute Gniezno. Max Katz bezeichnete sich inzwischen als Hauptlehrer, 1904 wohnte er mit seiner Familie in der Hornstraße 8. In Gnesen blieben sie bis zu Max’ frühem Tod 1908 – er wurde 50 Jahre alt.

Ernestine scheint kurz darauf nach Berlin gezogen zu sein. Sohn Arthur heiratete 1910 in Charlottenburg und gab auf der Heiratsurkunde als Adresse bereits die Giesebrechtstraße 17 an und auch, dass seine Mutter wohnhaft in Charlottenburg sei. Im Adressbuch ist sie dort erst 1912 verzeichnet, Gartenhaus, 2. Stock. Entweder wohnte sie zunächst in der Giesebrechtstraße zur Untermiete, oder sie war erst dort später gemeldet. Eine eigene Wohnung hatte laut Adressbuch Arthur (genannt Katz – Foerstner) 1909 in der Joachimsthaler Straße und 1910 in der Nestorstraße. 1913 gründete er den „Deutschen Handels- und Industrie-Verlag“ und bezog zwei Stockwerke in der Markgraf-Albrecht-Straße 14, in einem wohnte er mit seiner Frau Milada, in dem darüber liegenden befanden sich die Büroräume des Verlags.

Als Hauptlehrerwitwe bekam Ernestine eine Pension und wurde außerdem von ihren Söhnen monatlich finanziell unterstützt, vor allem von Arthur, dessen Verlag sehr gut lief. Unter anderem fanden die von ihm herausgegebenen Wirtschaftshandbücher viel Beachtung und Verbreitung. Mit diesen finanziellen Mitteln konnte Ernestine nicht nur „gut leben“, sondern auch, wie ihr Sohn Arthur betonte, Ersparnisse machen.

1932 beschloss Arthur in Anbetracht des drohenden Nationalsozialismus, mit seiner Frau nach Frankreich zu ziehen. Der Sitz des Verlages verblieb bei seinem Rechtsanwalt in der Kantstraße 76. Arthur versuchte, von Frankreich aus den Verlag weiter zu betreiben, scheiterte aber weitgehend, da wegen des Judenboykottes Anfang April 1933 bereits zugesagte Anzeigen und Aufträge zurückgenommen wurden. Der spätere Versuch, in Frankreich einen neuen Verlag aufzubauen, wurde durch den Kriegsbeginn vereitelt.

Ernestine konnte ihren Sohn noch mehrmals treffen. 1935 fuhr sie mit Hans Georg, der inzwischen geschieden war und bei ihr wohnte, zu Besuch zu Arthurs damaligem Wohnsitz in Deauville. Ihr ältester Sohn Siegfried war schon 1929 gestorben. 1937 konnte sie sich, trotz der zunehmenden Einschränkungen für Juden, mit Arthur in Marienbad treffen. Dieses sollte das letzte Mal sein, dass sie sich sahen. Nach den Pogromen im November 1938 wurden die diskriminierenden und erniedrigenden Verordnungen gegen Juden so zahlreich, dass Ernestine keine Freizügigkeit mehr hatte und auch über ihr Vermögen nicht mehr frei verfügen konnte. Falls sie erwogen hatte, zu ihrem Sohn nach Frankreich zu fliehen, war das nach Kriegsbeginn unmöglich geworden. Arthur wurde zunächst als feindlicher Ausländer interniert, nach der deutschen Besetzung durchlief er verschiedene Lager – aus dem vorerst letzten konnte er kurz vor der Deportation der dortigen Juden entkommen und im September 1941 in die nicht besetzte Zone nach Nizza fliehen.

Inzwischen waren in Berlin Ernestine und Hans Georg im Mai 1941 gezwungen worden, ihre langjährige Wohnung in der Giesebrechtstraße 17 aufzugeben und zur Untermiete bei Julius Rosendorf in die Dortmunder Straße 9 zu ziehen. Juden wurden systematisch aus ihren Wohnungen vertrieben und bei anderen Juden zwangseinquartiert, um so Wohnraum für Nicht-Juden zu schaffen. Ab September 1941 hatte Ernestine mit ihrem Sohn abermals umzuziehen, diesmal in den Kaiserdamm 102.

Ein Jahr später musste Ernestine erleben, wie ihr Sohn Hans Georg abgeholt wurde, um am 5. September 1942 nach Riga deportiert zu werden. Nur wenige Tage danach wurde sie selbst abgeholt und zunächst in das Sammellager Gerlachstraße 18-21 verbracht, ein kurzfristig umfunktioniertes jüdisches Altersheim. Von dort wurde sie am 14. September 1942 nach Theresienstadt deportiert. Im gleichen Zug waren auch Else Elkisch und Elise Misch, die Ernestine vermutlich aus der Giesebrechtstraße 17 kannte. Vielleicht konnten sich die Frauen noch gegenseitig Mut zusprechen. Möglich aber auch, dass sie nicht voneinander wussten, denn dieser war ein sogenannter „großer Transport“, er umfasste nicht wie sonst 100 Menschen, sondern 1000 und es dürfte nicht leicht gewesen sein, unter so vielen Menschen Bekannte zu finden.

Theresienstadt war keineswegs, wie behauptet wurde, ein Alterssitz für einen ruhigen Lebensabend, sondern vielmehr ein Durchgangslager, in dem die Insassen entweder durch die menschenverachtenden Lebensbedingungen – Überfüllung, Hunger, Kälte, Krankheiten aufgrund fataler Hygieneumstände – zu Tode kamen, oder aber weiter in Vernichtungslager verschleppt wurden. Ernestine Katz überlebte diese Zustände nur drei Monate. Die 82-Jährige starb im Lager am 14. Dezember 1942. Im Krematorium Theresienstadt erhielt sie die Nummer 6768.

In Hans Georgs Deportations-„Transport“ nach Riga, der vom Güterbahnhof Moabit ausging, waren 796 Juden aus Berlin. In Insterburg kamen noch 250 weitere dazu. In Riga angekommen, wurden 80 Männer zur Zwangsarbeit aussortiert, alle anderen wurden erschossen. Von den 80 Männern überlebten nur 6 – einer von ihnen war Hans Georg Katz. Außer dieser erfreulichen Tatsache, konnte nichts über sein weiteres Schicksal ermittelt werden.

Arthur Katz wurde 1941 in Nizza durch französische Gendarmen der Vichy-Regierung verhaftet und nach 6 Wochen Gefängnis in die Gemeinde Meyssac/Corrèze gewiesen, da Marschall Pétain eine Residenzpflicht für Juden verhängt hatte. Im Februar 1943 – nachdem die Deutschen auch die Südzone Frankreichs besetzt hatten – entkam Arthur Katz dank der Hilfe des Bürgermeisters von Meyssac nur knapp der Verhaftung und Deportation. Er überlebte mit seiner Frau Milada in Frankreich, wo er auch nach dem Krieg blieb.

Ernestines Schwester Clara hatte sich bereits 1895 mit dem Tabakfabrikanten Norbert Canard aus Kapstadt verlobt, ihn geheiratet und war nach Südafrika gezogen. Dort starb sie im September 1945.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Adressbuch Bromberg; Adressbuch Gnesen; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Arolsen Archives; Angaben von Lewis Herman, Urenkel von Clara Canard geb. Blaustein; Wolfgang Scheffler, Diana Schulle, Buch der Erinnerung: Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, München 2003; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; https://www.encyclopedia.com/religion/encyclopedias-almanacs-transcripts-and-maps/blaustein-abraham

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Selma Lichtenstein

Stolperstein für Selma Lichtenstein

HIER WOHNTE
SELMA
LICHTENSTEIN
GEB. BERNDT
GEDEMÜTIGT / ENTRECHTET
FLUCHT IN DEN TOD
25.11.1941

Selma Berndt sah erstmals das Licht der Welt am 29. Mai 1880 in Berlin als jüngstes Kind des Kaufmannes Samuel Siegmund Berndt und seiner Frau Röschen (Rosa) geborene Japha. Zu diesem Zeitpunkt wohnte die Familie am Molkenmarkt 7. Das Ehepaar war um 1877 von Fraustadt, heute Wschowa und damals zur Provinz Posen gehörig, nach Berlin gezogen. In Fraustadt hatten sie 1875 und 1876 zwei Söhne bekommen, die beide im Säuglingsalter starben. In Berlin wurden Selmas Bruder Richard (*1878) und ihre Schwester Alma Elsa (*1879) geboren. Als Selma 3 Jahre alt war, starb ihr Vater mit nur 31 Jahren. Wir wissen nicht, wohin Röschen zunächst mit den drei kleinen Kindern zog und wie sie ihren Lebensunterhalt bestritt. Erst 1898 findet sich ihre Spur wieder in den Adressbüchern, als Witwe in der Straßburger Straße 54, parterre.

Dort wohnte Selma noch 1912, als sie am 6. Juli den elf Jahre älteren Kurt Lichtenstein aus Dresden heiratete. Selma war inzwischen Verkäuferin geworden, die Berufsbezeichnung für Kurt lautet “Assistent 1. Klasse” – möglicherweise eine militärische oder handelstechnische Bezeichnung – sein Wohnsitz wurde mit Bagamoyo, Ost-Afrika (heute Tansania) “zur Zeit wohnhaft in Dresden-Blasewitz”, angegeben. Bagamoyo lag in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika. Kurt Lichtenstein war als 27-jähriger Kaufmann 1896 offiziell nach Ostafrika ausgewandert. Laut der Passagierliste des Dampfschiffes „Kaiser“ fuhr Kurt am 26. März 1896 von Hamburg aus mit dem Ziel Delagoa Bay (heute Maputo Bay, Mosambik), also Portugiesisch-Ostafrika. Ob er schon bei der Überfahrt – die durch den Suezkanal führte – in Deutsch-Ostafrika hängen blieb oder später von der südlich gelegenen portugiesischen Kolonie nach Bagamoyo gelangte, bleibt unklar. Bagamoyo war bis 1891 die Hauptstadt von Deutsch-Ostafrika gewesen, blieb danach Sitz der Verwaltung.

Es ist nicht dokumentiert, wo sich Selma und Kurt nach der Heirat niederließen. Die Adressbücher sind nicht hilfreich, da der Name Kurt Lichtenstein mehrfach vorkommt. Vielleicht handelt es sich um den Kaufmann Kurt Lichtenstein, der ab 1912 in Treptow, Kienhofstraße 269, wohnte, vielleicht lebten sie auch anderswo zur Untermiete, vielleicht wohnten sie zeitweise gar nicht in Berlin, vielleicht ging Selma gar mit Kurt nach Ostafrika. Ebensowenig wissen wir, ob sie Kinder hatten.

Im September 1933 starb Kurt Lichtenstein. Möglich, dass Selma erst danach zur Untermiete in die Giesebrechtsraße 17 zog. Beweisbar ist nur, dass sie dort 1939 zum Zeitpunkt der Volkszählung vom 17. Mai wohnte, da sie in der Sonderkartei für Juden erfasst ist.

Inzwischen war das Leben für Juden schwer erträglich geworden. Zahlreiche Verordnungen zielten darauf, sie völlig aus dem beruflichen und dem öffentlichen Leben auszuschalten. Vor allem nach den Pogromen vom November 1938 verschärfte sich die Lage drastisch. Zu schon bestehenden Einschränkungen kam eine große Anzahl weiterer diskriminierender und erniedrigender Maßnahmen. Unter anderem konnten Juden nur noch eingeschränkt über ihr Vermögen verfügen. Juden durften nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen, nicht in Theater, Konzerte, Kinos usw. gehen, zu bestimmten Zeiten durften sie gar nicht mehr auf die Straße, durften nur von 4 bis 5 Uhr nachmittags einkaufen. Alle Wertgegenstände mussten sie abliefern, Rundfunkgeräte wurden beschlagnahmt, Telefonanschlüsse gekündigt, ihre Konten wurde zu „Sicherheitskonten“ erklärt, von denen sie nur durch „Sicherungsanordnung“ festgelegte Beträge für ein Existenzminimum abheben durften. Sie wurden gezwungen, ihrem Vornamen die „jüdischen“ Namen Sara und Israel anzuhängen, ab September 1941 hatten sie den Judenstern zu tragen. Juden wurden zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie herangezogen und wurden genötigt, zur Untermiete in bestimmten Wohnungen und Häusern zusammenzurücken. Auch Selma Lichtenstein konnte nicht in der Giesebrechtstraße 17 bleiben, ihre Adresse 1941 lautete Joachimsthaler Straße 13, ein Haus, das der Jüdischen Gemeinde gehörte. Ob Selma Zwangsarbeit leisten musste, wissen wir nicht, möglicherweise arbeitete sie für die Jüdische Gemeinde, in deren Haus sie wohnte.

Im Oktober 1941 begannen in Berlin die Deportationen. Selmas Schwester Elsa wurde mit ihrem Ehemann Georg Jacob am 14. November des Jahres nach Minsk deportiert. Vielleicht war das für Selma der Anstoß, sich einem ähnlichen Schicksal zu entziehen: Wenige Tage darauf, am 25. November 1941 nahm sie sich in ihrer Wohnung das Leben, laut Sterbeurkunde „vermutlich durch Schlafmittelvergiftung”.

Selmas Bruder Richard Berndt gelang mit seiner Frau Margarete geb. Berliner und der Tochter Ruth im Oktober 1938 die Flucht nach Guatemala. Dort starb er 1947. Für ihn, seine Frau und Tochter liegen Stolpersteine vor der Kuno-Fischer-Straße 14.

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Arolsen Archives; geni.com

Stolperstein für Elise Misch

Stolperstein für Elise Misch

HIER WOHNTE
ELISE MISCH
GEB. HIRSCHSON
JG. 1867
DEPORTIERT 14.9.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 11.2.1943

Das Foto der Shanghai-Bescheinigung von Hans Misch gehört zu Elise Misch

Das Foto der Shanghai-Bescheinigung von Hans Misch gehört zu Elise Misch

Elise Hirschson kam in Berlin am 30. Mai 1867 auf die Welt. Ihr Vater Samuel Hirschson war mit Mathilde geb. Tobias verheiratet, sie wohnten in der Breiten Straße 8. Ob Elise noch Geschwister hatte, wissen wir nicht. Samuel Hirschson war Mitinhaber der Firma Quaadt und Hirschson, die Lampen und Lackierwaren herstellte. Das Geschäftslokal befand sich in der Neuen Friedrichstraße 9.

Elise wohnte noch im selben Haus in der Breiten Straße, als sie – noch 18jährig – am 16. April 1886 den sieben Jahre älteren Martin Misch heiratete. Das Paar bezog eine Wohnung am Waterloo Ufer 13. Martin Misch betrieb die von seinem Vater gegründete Lederhandlung „Heinrich Misch Sohn Martin & Co. Command. Gesellschaft“ in der Klosterstraße 49 mit Filiale am Belle-Alliance-Platz 9 (heute Mehringplatz). Martin war persönlich haftender Gesellschafter. Neun Monate nach der Heirat, am 19. Januar 1887, brachte Elise ihren Sohn Heinrich Hans zur Welt. Im April 1890 folgte die Tochter Toni. Als vier Jahre später die zweite Tochter, Helene, geboren wird, wohnt die Familie in der Wiener Straße 9. Martin Misch führt nicht mehr die väterliche Firma, sondern hat jetzt eine Lederhandlung und Steppanstalt.

Der Betrieb lief möglicherweise nicht optimal, denn um die Jahrhundertwende hatte ihn Martin Misch aufgegeben und betätigte sich als „Vertreter auswärtiger Häuser f. Plüsche, Satteltaschen, Portièren, Decken etc.“ Mischs wohnten nach mehrmaligen Umzügen nun in der Georgenkirchstraße 66.

Die Vertretung konnte Martin Misch nicht mehr lange ausüben. Am 16. Juli 1903 starb er mit 42 Jahren in einer Privatklinik in Rosenthal-Nordend, damals noch eine eigenständige Gemeinde, 1920 nach Berlin eingemeindet. Elise, nun Witwe mit drei Kindern, blieb noch – folgt man dem Adressbuch – ein Jahr in der Georgenkirchstraße wohnen, um dann erst in die Esmarchstraße und schließlich nach Charlottenburg in die Kantstraße 104 zu ziehen. Wo sie zwischen 1911 und 1916 lebte, bleibt ungeklärt. Erst im Adressbuch 1917 findet sich ihre Spur wieder, und zwar in der Giesebrechtstraße 17, Gartenhaus. Möglicherweise wohnte sie schon vorher dort, war aber nicht im Adressbuch aufgeführt. Sie wird als „Rentiere“ bezeichnet, offenbar konnte sie von der Hinterlassenschaft ihres Mannes leben.

Elises Sohn Hans heiratete und seine Frau Anna Bertha bescherte Elise 1925 eine Enkelin, Irene. Er trennte sich jedoch von Anna und heiratete ein zweites Mal. Die Braut hieß nun Lucie Mecklenburg und war Sekretärin bei der Jüdischen Gemeinde. Elises Töchter Toni und Helene blieben ledig. Toni wohnte ab Mitte/Ende der 30er Jahre mit der Mutter in der Giesebrechtstraße, möglicherweise schon früher. Sie trug mit Einkünften aus Schreibmaschinenarbeiten zum Haushalt bei. 1941 wurden beide Frauen gezwungen, ihre 3-Zimmer-Wohnung aufzugeben und in ein Zimmer zur Untermiete bei Johann Schiff in die Giesebrechtstraße 19 zu ziehen. Nach Lockerung des Mieterschutzes für Juden konnten diese gekündigt und in die Wohnungen anderer Juden zwangseingewiesen werden. So sollte auch Wohnraum für Nichtjuden geschaffen werden. In Berlin wurde das besonders ab Anfang 1941 betrieben, da Ersatzwohnraum nicht nur infolge von Fliegerangriffen benötigt wurde, sondern auch aufgrund der Baupläne von Generalbauinspektor Albert Speer für die „Welthauptstadt Germania“, im Zuge derer ganze Straßenzüge abgerissen wurden.

Der Zwangsumzug war nicht die einzige Schikane und antisemitische Maßnahme, die Juden zu erleiden hatten. Zu Diskriminierungen, Boykotten und Berufsverboten kamen – vor allem nach den Pogromen vom November 1938 – zahlreiche Verordnungen, die den Ausschluss von Juden aus dem öffentlichen Leben zum Ziel hatten. Theater, Konzerte, Kinos usw. waren ihnen verboten, sie durften bestimmte Bannbereiche nicht mehr betreten, durften nur von 4 bis 5 Uhr nachmittags einkaufen, nach 9 Uhr abends – im Winter nach 8 Uhr – durften sie gar nicht mehr auf die Straße. Zudem mussten sie Schmuck und Silber in der Pfandleihanstalt in der Jägerstraße abliefern, Rundfunkgeräte wurden beschlagnahmt, Telefonanschlüsse gekündigt, ihre Konten wurde zu „Sicherheitskonten“ erklärt, von denen sie nur festgelegte Beträge für ein Existenzminimum abheben durften. Dies waren nur einige der Vorschriften, die ihnen das Leben in Deutschland unerträglich machen sollten.

Elise und Toni mussten sich unter diesen Umständen mehr schlecht als recht durchschlagen. Toni wurde zur Zwangsarbeit in einer Fabrik herangezogen, musste zudem die über 70jährige Mutter pflegen. Die Möbel, die sie nicht in die Nr. 19 hatten mitnehmen können, mussten sie zu Schleuderpreisen verkaufen – dass Käufer die Notlage der Juden skrupellos ausnutzten, war gang und gäbe. Im Juni 1942 wurde Tonis Deportation „nach Polen“ angekündigt, sie wurde aber zurückgestellt, da die Fabrik Toni als Arbeitskraft reklamierte. So musste sie drei Monate später die Deportation ihrer Mutter erleben. Elise hatte am 1. September 1942 eine „Vermögenserklärung“ auszufüllen und sich in der Sammelstelle Gerlachstraße 18-21 einzufinden, ein kurzerhand umfunktioniertes jüdisches Altersheim, da die Kapazitäten des – ebenfalls als Lager missbrauchten – Heimes in der Großen Hamburger Straße 26 nicht ausreichten, um die zu Deportierenden zusammenzufassen. Vielleicht traf sie schon dort ihre Mitbewohnerinnen aus der Giesebrechtstraße 17, Else Elkisch und Ernestine Katz, die mit ihr und weiteren 997 Menschen am 14. September 1942 nach Theresienstadt verschleppt wurden.

Laut NS-Propaganda war dieses „Altersghetto“ eine Stätte für einen ruhigen Lebensabend, tatsächlich erwartete die Insassen dort ein grausames Lebensende. In den erbärmlichen Unterbringungen grassierten Krankheiten und Seuchen infolge von Hunger, Kälte und katastrophalen Hygienebedingungen. Etwa ein Viertel der Insassen starb an diesen Umständen.

Auch Elise Misch überlebte den harten Winter nicht mehr ganz. Am 11. Februar 1943 starb sie laut „Todesfallanzeige“ an einer Lungenentzündung. Man kann davon ausgehen, dass dies eine Verharmlosung der tatsächlichen Todesursachen ist: Elise Misch wurde Opfer der menschenverachtenden Lebensumstände in dem Lager.

Elises Sohn Hans war im April 1939 mit seiner Frau Lucie nach Shanghai emigriert, eine der wenigen Möglichkeiten, die es noch gab, ein Visum zu bekommen. Ein gutes Jahr später zwangen sie die japanische Militärbehörden, ins Ghetto zu ziehen, wo Hans am 23. Juli 1944 starb. Helene war Anfang der 30er Jahre nach Friedrichroda als Hausdame der jüdischen Fremdenpension von Bettina Brenner gegangen. Letztere war Vorstandsvorsitzende des Jüdischen Frauenbundes Deutschlands und Helene hatte sie vermutlich um 1926 in Berlin kennen gelernt. Nachdem das Heim während des Pogroms 1938 demoliert wurde und dann enteignet, konnte Bettina Brenner mit ihrer Mutter und Helene nach Chile flüchten. In Friedrichroda liegen Stolpersteine für die drei Frauen vor dem Haus Schreibersweg 3. Elises Tochter Toni konnte sich nach der Deportation der Mutter der eigenen, nun Anfang 1943 angekündigten Verschleppung, entziehen. Sie „ließ alles liegen und stehen“ und flüchtete aus Berlin – wohin, ist nicht dokumentiert. Nach dem Krieg war sie noch 1949 im DP-Lager (DP für Displaced Persons) in Deggendorf, Bayern. Schließlich gelang ihr die Auswanderung nach Chile zu ihrer Schwester Helene. Auch Lucie Misch überlebte Shanghai und heiratete erneut nach dem Krieg.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Arolsen Archives; https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/;
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Stolperstein_in_Friedrichroda,_Schreibersweg_3_f%C3%BCr_Helene_Misch-CTH.jpg

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Josef Wysocki

Stolperstein für Josef Wysocki

HIER WOHNTE
JOSEF WYSOCKI
JG. 1898
DEPORTIERT 3.3.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET 26.4.1943

Josef Tobias Wysocki wurde am 22. November 1898 in Petrikau (Piotrkow Trybunalski) geboren. Piotrkow gehört heute zu Polen und liegt in der Nähe von Łódź. Als Josef geboren wurde, gehörte es zu dem sog. Kongresspolen (1815 auf dem Wiener Kongress konstituiert) und unterstand dem zaristische Russland. Schon im 14. Jh. gab es hier eine große jüdische Gemeinde, viele vertriebene deutsche Juden hatten sich hier niedergelassen. Nach 1578 wurden sie aus der Stadt ausgewiesen, ein Jahrhundert später durften sie sich wieder ansiedeln. 1938 waren knapp die Hälfte der 51000 Einwohner Juden.

Über Josefs Familie wissen wir leider nichts. Auch nicht, wann er nach Berlin kam. Als er am 14. Dezember 1923 hier heiratete, wohnte er in der Küstriner Straße 5 (heute Damaschkestraße). Als Beruf ist in der Heiratsurkunde Kaufmann angegeben. Die Braut war Paula Katzen, geboren am 30. Januar 1897 zu Riga in Lettland. Paulas Adresse war die Charlottenburger Berliner Straße 77, heute Otto-Suhr-Allee. Beide wohnten wohl zur Untermiete, da sie nicht im Adressbuch als Haushaltsvorstand erscheinen. Auch in den folgenden Jahren ist nicht nachzuweisen, wo das Paar lebte. Blieben sie in Berlin? Gingen sie nach Lettland? Josef Wysockis Spur findet sich erst wieder anlässlich der Volkszählung vom 17. Mai 1939, und zwar als Untermieter von Else Elkisch in der Giesebrechtstraße 17. Von Paula wissen wir nur, dass sie 1941 im Lettischen Liepāja (deutsch Libau) bei den zwischen Ende Juni und Mitte Dezember von Wehrmacht und SS verübten Massakern an Juden ermordet wurde. Die Zahl der Opfer wird auf 7000 bis 8000 geschätzt.
Paula war also nach Lettland zurückgekehrt. Offenbar hatte sich das Ehepaar getrennt, die Heiratsurkunde enthält keinen Hinweis auf eine Scheidung, wohl aber auf eine zweite Heirat Josefs am 18. März 1941.
Josef Wysockis zweite Ehefrau war Mali (auch Mally) geb. Hurtig. Sie war am 27 August 1915 in Berlin als älteste Tochter des Schneidermeisters Bruno Hurtig und seiner Frau Jetti geb. Keller geboren. Sie hatte drei jüngere Geschwister, Lisa, Paula und Herbert. 1939, zum Zeitpunkt der Volkszählung, lebte sie mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter Else geb. Stein (Jetti Hurtig war 1926 gestorben) und ihren Geschwistern in der Immanuelkirchstraße 26. Auch von dem Ehepaar Josef und Mali wissen wir kaum etwas, nur, dass sie zuletzt im Hansaviertel, in der Claudiusstraße 6 wohnten. In diesem Haus, das dem jüdischen Rentier Isidor Lewinsky gehört hatte, lebten über 30 Juden. Es war vermutlich eines der „Judenhäuser“, in die aus ihren Wohnungen vertriebenen Juden zusammengepfercht wurden. Von hier wurden Mali am 1. März und Josef am 3. März 1943 nach Auschwitz deportiert. Dass beide Anfang März an verschiedenen Tagen deportiert wurden, deutet darauf hin, dass sie in unterschiedlichen Betrieben Zwangsarbeit leisteten und Opfer der sogenannten „Fabrikaktion“ wurden. Am 27. Februar 1943 und den folgenden Tagen sollten alle noch in der Rüstungsindustrie arbeitenden Juden direkt am Arbeitsplatz verhaftet und anschließend deportiert werden. In Berlin betraf das über 8000 Juden. Etliche wurden vorgewarnt und konnten untertauchen, nicht so Josef und Mali Wysocki. Josef Wysocki kam am 26. April 1943 in Auschwitz ums Leben, das Todesdatum von Mali ist nicht bekannt.
Von Malis Eltern und Geschwistern konnte nur Lisa rechtzeitig nach England fliehen. Es heißt, Mali habe ein Angebot als Hausmädchen in London gehabt, es aber wegen der bevorstehenden Heirat mit Josef Wysocki an ihre Schwester weitergegeben. Bruno Hurtig und seine zweite Frau Else wurden am 4. März, Paula und Herbert bereits am 1. März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Für alle vier liegen seit November 2016 Stolpersteine vor der Immanuelkirchstraße 26 in Prenzlauer Berg. Der Name Wysocki taucht nicht weiter im Gedenkbuch des Bundesarchivs auf. Ob außerhalb Deutschlands noch Verwandte von Josef Opfer der Shoa wurden, wissen wir nicht.
Quellen:
Gedenkbuch Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Arolsen Archives; https://hansaviertel.berlin/geschichte/juedische-nachbarn/; https://www.geni.com/people/; https://de.findagrave.com/memorial/106955093/paula-katzen; AJR Journal, June 2017

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf