Stolpersteine Mommsenstraße 2

Hausansicht Mommsenstr. 2

Diese Stolpersteine wurden am 25.04.2018 verlegt.

Stolperstein Hirsch Bieber

HIER WOHNTE
HIRSCH BIEBER
JG. 1866
DEPORTIERT 14.9.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 27.10.1942

Am 9. Januar 1866 wurde Hirsch Bieber in Preußisch – Stargard im heutigen Starogard in Westpreußen geboren. Er war verheiratet mit Franziska Jonas, geboren am 20. November 1868 in Rosenberg, heute Susz, ebenfalls Westpreußen.

Das Ehepaar hatte 4 Kinder. Der Erstgeborene, Julius, starb im Juli 1896 im Alter von 4 Monaten. Alfred wurde 1897 geboren, Gertrud 1899 und Elsbeth 1902. Die Familie wohnte zuerst in der Weberstraße 60, danach in der Kaiser Wilhelm Straße 19, der heutigen Karl – Liebknecht – Straße, und ab 1935, bis zur Deportation von Hirsch Bieber, in der Mommsenstraße 2.
Hirsch hatte seinen Vornamen in dieser Zeit „eingedeutscht“, er nannte sich während der Zeit des Nationalsozialismus Hermann – wohl auch, um sich als Baumwollhändler vor seinen nichtjüdischen Kunden nicht offensichtlich als Jude erkennen zu geben.

Gertrud heiratete 1921 den Ingenieur Edwin Neuberg. In der Heiratsurkunde war unter dem Namen Edwin Neuberg die Spalte „Religion“ durchgestrichen. Er war aus der Jüdischen Gemeinde ausgetreten. 1939, als die Diskriminierung und Verfolgung der Juden auf den Höhepunkt zusteuerte, trat er wieder in die Glaubensgemeinschaft der Juden ein. In der Heiratsanzeige ist handschriftlich vermerkt:

bq. Berlin, am 19. Juli 1939
Nach Mitteilung des Vorstands der jüdischen Gemeinde zu Berlin vom 12. Mai 1939 hat der nebenbezeichnete Ehemann seinen Wiedereintritt in die jüdische Gemeinde zu Berlin erklärt.
Der Standesbeamte
Juhlke

Ein bemerkenswerter Schritt in einer Zeit, in der Scheidungen vom jüdischen Ehepartner allzu häufig waren. Auf dem Gedenkblatt für Erdwin Neuberg, das die Nichte Iris Glucoft in Yad Vashem einreicht, vermerkt diese:

bq. wife was arrested – he chose to accompany her.

1925 heiratete Hirschs Sohn Alfred Hedwig Marie – Luise Neumann.
Die Tochter Elsbeth heiratete 1933 Manfred Nathan, mit dem sie rechtzeitig nach Kolumbien fliehen und so ihr Leben retten konnte.

1939 war auch familiär ein besonders schlimmes Jahr für Hirsch Bieber. Seine Frau Franziska starb am 22. Oktober an Herz- und Lungenversagen. Den Tod meldete der Schwiegersohn Edwin Neuberg beim Standesamt Charlottenburg. Er lebte zu dieser Zeit mit Gertrud in der Augsburger Straße 62.

Am 1. März des Jahres hatten der Sohn Alfred und seine Frau Marie Luise ihre Koffer gepackt und waren nach Belgien geflohen. Aber schon gut ein Jahr später war ihre Sicherheit vorüber, als Deutschland die Niederlande, Belgien und Luxemburg überfiel. Alfred und seine Frau wurden verhaftet und in das SS – Sammellager Malines (Mechelen) eingewiesen. Die Kaserne diente als Durchgangslager für die Deportation der belgischen Juden und „Zigeuner“ in die Vernichtungslager. Am 24. Oktober 1942 wurde das Ehepaar nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Davon wird Hirsch Bieber nicht mehr erfahren haben. Er war am 14. September 1942 von seiner Wohnung in der Mommsenstraße 2 aus zusammen mit 1000 weiteren Menschen mit dem sogenannten „2. Großen Alterstransport“ nach Theresienstadt deportiert worden. Neben zahlreichen Nachbarn aus anderen Häusern der Mommsenstraße befanden sich auch die Insassen des Dauerheims der Israelitischen Taubstummenanstalt und die Bewohner des Altersheims Iranische Straße 3 in dem Transport.

Hirsch Bieber hatte noch 6 Wochen zu leben, bevor er am 27. Oktober starb. Als Todesursache wurde „Altersschwäche“ angegeben. In Wahrheit werden die katastrophalen Bedingungen des Ghettos, der Hunger, die grassierenden Krankheiten und die völlig unzureichenden hygienischen Verhältnisse den schnellen Tod Hirsch Biebers herbeigeführt haben.
Seine Tochter Gertrud und ihr Mann Edwin wurden am 9. Dezember 1942 von Prenzlauer Berg aus in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet.

Recherche und Text: Karin Sievert
Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945
Theresienstädter Gedenkbuch Holocaust.cz
Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten – Entschädigungsbehörde
Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Landesarchiv Berlin, WGA
Deportationslisten
Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“
Loose: „Berliner Juden im Getto Litzmannstadt 1941 – 1944
Yad Vashem – Opferdatenbank
https://de.wikipedia.org/wiki/SS-Sammellager_Mecheln

Stolperstein Jacob Jacobsohn

HIER WOHNTE
JACOB JACOBSOHN
JG. 1861
DEPORTIERT 14.9.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 30.9.1942

Am 9. Januar 1861 wurde Jacob Jacobsohn im ostpreußischen Soldau (poln. Dzialdowo) Kreis Neidenburg geboren. Seine Eltern waren der Kultusbeamte Nathan Jacobsohn und Caroline Jacobsohn geb. Hirsch, zuletzt wohnhaft in Posen. Über etwaige Geschwister ist nichts bekannt.
Jacob Jacobsohn, von Beruf Kaufmann, war in Berlin Kreuzberg in der Alten Jacobstraße 87 wohnhaft, als er 33jährig am 15. November 1894 die Geschäftsinhaberin Bertha Levy heiratete.

Im darauffolgenden Jahr, am 8. September 1895, wurde die Tochter Klara geboren, wiederum ein Jahr später, am 5. September 1896, die zweite Tochter Ella. Vom Sohn Kurt ist nur das Geburtsjahr 1910 bekannt. In diesen Jahren wohnte die Familie in Berlin Mitte, am Königsgraben 8. Nur 2 Häuser weiter, in der Nummer 11 wohnten damals Berthas Eltern, der Kaufmann David Levy und Eidel Emilie Levy, geb. Wiener.

1914 heiratete die erst 18jährige Tochter Klara den 27 Jahre alten Hermann Joseph, einen aus Wronke, Kreis Samter/Posen stammenden Kaufmann. Hermann Joseph wurde nur 40 Jahre alt, er starb am 9. November 1926 in Berlin.

Die berufslose junge Witwe fand 6 Jahre später einen neuen Ehemann, sie heiratete in Berlin am 12. Mai 1932 wiederum einen Kaufmann und Geschäftsinhaber, den 1890 geborenen Heinrich Seidenberg. Auch für ihn war es die zweite Ehe, zuvor war er mit Frieda Sklarek verheiratet gewesen.

Ella studierte Medizin, sie wurde Ärztin und heiratete am 15. November 1922 den aus der Ukraine stammenden Arzt Josef Sternglass.

Von Kurt ist nicht bekannt, ob er noch in Berlin geheiratet hat. Seinen Beruf gab er mit Kleidungsfabrikant an.

Es wurde der Familie Jacobsohn bald klar, dass die Nationalsozialisten mit ihrem Rassenwahn und den ständig zunehmenden Schikanen der jüdischen Bevölkerung keine andere Wahl ließen, als – wenn möglich – das Land zu verlassen.
Kurt war der Erste, der im September 1936 mit der „Southampton“ von London aus nach Amerika ausschiffte und sich bei seiner Tante Cecilia Boasberg in Buffalo N.Y. niederließ.
1838 emigrierte das Arztehepaar Ella und Josef Sternglass mit ihren Söhnen Ernst (*1923) und Arno (*1926). Auch sie gaben eine Adresse in Buffalo an. Die Söhne Ernst, später Ernest, und Arno gelangten später in den USA zu großer Berühmtheit. Ernest Sternglass wurde amerikanischer Physiker und leitete u.a. von 1960 – 1967 das Apollo Programm der NASA.
Arno Sternglass wurde in Amerika mit seinen Grafiken ein bekannter Illustrator.

Das Ehepaar Klara und Heinrich Seidenberg gelangte über Großbritannien nach Israel, nachdem Heinrich in Wales einige Zeit interniert war.

Jacob und Bertha bereiteten ebenfalls ihre Ausreise vor. Sie hatten bis dahin am Hohenzollerndamm 196, der langjährigen Wohnung der Familie gelebt. Aber nur Bertha gelang die Flucht im August 1939 über Rotterdam in die USA. Für Jacob war schon die Reichsfluchtsteuer gezahlt worden, vermutlich waren es die bürokratischen Schikanen und die lange Warteliste für Einwanderung, die verhinderten, dass Jacob mit seiner Frau zusammen das Land verlassen konnte. Bertha gab auf der Passagierliste die Mommsenstraße 2 als Adresse ihres Mannes an. Die Wohnung am Hohenzollerndamm war wohl schon in Vorbereitung der Ausreise aufgelöst worden und das Mobiliar verkauft. Die Wohnung oder das Zimmer in der Mommsenstraße 2 waren nur als Übergangsunterkunft gedacht. Jacobs Ausreise fand tragischer weise nicht statt. Er zog noch einmal um in die Mommsenstraße 55, seine letzte Unterkunft bevor er nach Theresienstadt deportiert wurde.

Am 14. September 1942 wurden Jacob Jacobsohn und weitere Jüdinnen aus dem Haus Mommsenstraße 55 mit dem 1000 Menschen umfassenden Transport I/65 in das böhmische Ghetto Theresienstadt deportiert. Der Transport umfasste das ganze Altersheim Iranische Straße 3, das Taubstummen- und Blindenheim Weißensee und Hunderte von Einzelpersonen, die vom Güterbahnhof Moabit deportiert wurden. Jacob Jacobsohn war schon 81 Jahre alt und überlebte die Strapazen des Ghettos um ganze 2 Wochen. Als Todesursache wurde „Darmkatarrh“ angegeben, eine übliche, häufig angegebene Diagnose, die die grausamen Lebensbedingungen wie Hunger, Seuchen, mangelhafte Hygiene usw. des Ghettos verschleiern sollte.

Recherche und Text: Karin Sievert
Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945
Theresienstädter Gedenkbuch Holocaust.cz
Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten – Entschädigungsbehörde
Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Landesarchiv Berlin, WGA
Deportationslisten
Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“
Yad Vashem – Opferdatenbank

Stolperstein Frieda Nathan

HIER WOHNTE
FRIEDA NATHAN
JG. 1880
DEPORTIERT 3.10.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 18.4.1943

Stolperstein Otto Nathan

HIER WOHNTE
OTTO NATHAN
JG. 1865
DEPORTIERT 3.10.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 8.11.1942

Otto und Frieda Nathan waren Geschwister und lebten zusammen in der Mommsenstraße 2, von wo aus sie gemeinsam deportiert und in einem Abstand von nur wenigen Monaten im Theresienstädter Ghetto ermordet wurden.
Die Eltern Heinrich (Hirsch) Nathan und Antonie geb. Zepler hatten am 26. Mai 1863 in Berlin geheiratet. Ein Jahr später, am 22. März 1864 kam die Tochter Margarethe auf die Welt, es folgten am 20. Juni 1865 der Sohn Otto, am 24. Oktober 1869 Paul Ludwig und erst 11 Jahre später, am 3. August 1880, die jüngste Tochter Frieda Friederika Fina, genannt Frieda. Die Familie wohnte während all der Jahre in Berlin – Charlottenburg.

Heinrich Nathan verstarb1885 – Frieda war gerade 5 Jahre alt – im Alter von 55 Jahren im Jüdischen Krankenhaus und Antonie 71jährig im Jahr 1910. Vielleicht zog Frieda schon bald nach dem Tod der Mutter zu ihrem Bruder Otto, der ab 1917 unter der Adresse Mommsenstraße 2 im II. OG gemeldet war.
Insgesamt ist über das Leben der Geschwister Nathan wenig überliefert. Alle Geschwister schienen kinderlos geblieben zu sein, Otto und Paul wurden wie ihr Vater Kaufleute.

Paul war mit der kaufmännischen Angestellten Emmy Wildemann verheiratet, die aber schon 1921, ein Jahr nach der Hochzeit, mit 44 Jahren verstarb. Das Ehepaar lebte damals in Friedenau am Südwestkorso.
Otto und Frieda Nathan waren beide ledig. Vermutlich führte Frieda ihrem Bruder den Haushalt in der Mommsenstraße.

Alle Geschwister wurden in das Ghetto Theresienstadt verschleppt. Paul wurde am 25. August 1942 mit dem sogenannten 49. Alterstransport deportiert. Er wurde 4 Monate später, am 14. Dezember ums Leben gebracht.
Otto und Frieda mussten am 3. Oktober 1942 mit dem sogenannten 3. „großen“ Alterstransport zusammen mit mehr als 1000 Menschen den Weg ohne Rückkehr in das böhmische Ghetto antreten.
Irrtümlicherweise wurden sie auf der Deportationsliste als verheiratet eingetragen, ein Fehler, der bei der Registrierung im Ghetto jedoch gleich korrigiert wurde.

Otto starb schon einen Monat nach Ankunft, am 8. November, an den Folgen einer nicht behandelten Blutvergiftung. Frieda überlebte ihn um wenige Monate, die unmenschlichen Bedingungen des Lagers ertragend. Sie wurde am 18. April 1943 ums Leben gebracht.

Margarethes Schicksal ist ungewiss. Es gibt Hinweise darauf, dass sie das Ghetto Theresienstadt überlebt und 1945 nach dessen Befreiung nach Palästina ausgewandert ist. Eine israelische Liste Holocaust Überlebender führt ihren Namen auf, jedoch kein Geburtsdatum.

Vielleicht haben sich die vier Geschwister im Konzentrationslager noch ein letztes Mal sehen und voneinander Abschied nehmen können.

Recherche und Text: Karin Sievert
Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945
Theresienstädter Gedenkbuch Holocaust.cz
Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Landesarchiv Berlin: Geburts- Heirats- und Sterbeurkunden
Deportationslisten
Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“
Yad Vashem – Opferdatenbank
Pinkas HaNitzolim I :List of Jewish survivors in Theresienstadt, compiled 10 May 1945,
In: Israel Genealogy Research Association – IGRA

Stolperstein Leo Radinowski

HIER WOHNTE
LEO RADINOWSKI
JG. 1896
DEPORTIERT 3.2.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Die Familie Radinowski stammte aus dem ostpreußischen Johannisburg, dem heutigen Pisz.
Die Spuren der ostpreußischen Juden sind durch den Holocaust verwischt. Keiner der wenigen Juden, die der Vernichtung entkommen konnten, ist in die ostpreußische Heimat zurückgekehrt. Die wenigen Überlebenden wurden in alle Winde zerstreut.

Die Eltern der Geschwister Radinowski waren Leiser Radinowski und Berta geb. Hoeppner. Ihre sieben Kinder kamen alle in Johannisburg auf die Welt.
Der Älteste, Max, wurde 1886 geboren, es folgten Anna 1887, Hermann 1890, Ida 1893, Lina 1895 und Leo am 27. November 1896. Vom Bruder Albert ist kein Geburtsdatum bekannt.

Viele Mitglieder der Familie Radinowski, unter anderem die 1926 verwitwete Mutter Berta zogen nach Berlin, Albert und zeitweise auch Max ließen sich in Angerburg und Ida in Calbe an der Saale nieder.

Leo Radinowski war Kaufmann geworden und betrieb einen Textilgroßhandel in Berlin – Mitte. Die Adress- und Telefonbücher weisen unterschiedliche Adressen in Mitte aus. Zwischen 1935 und 1939 gab es die Einträge: Spandauer Straße 27, Kupfergraben 34/36, Kaiser – Wilhelm – Straße 25 und 26 b (heute Karl – Liebknecht Str.). Nach den Novemberpogromen 1938 wird Leo, wie die meisten jüdischen Unternehmer, seinen Großhandel zwecks „Arisierung“ zwangsweise veräußert haben, seine Spur in den Adressbüchern verliert sich nach 1939. Unter der Adresse Duisburger Straße 19 war im gleichen Zeitraum ebenfalls ein Leo Radinowski gemeldet, 1938 steht dort statt Leo die Sekretärin E. Radinowski. War dieses eventuell seine Privatadresse und die Sekretärin seine Ehefrau, oder handelte es sich um eine namensgleiche andere Person?

In der Sonderkartei für Juden der Volkszählung von Mai 1939 ist Leo unter der Adresse Mommsenstraße 2 aufgeführt. Mit dem Verlust seines Großhandels musste er wohl auch seine eigene Wohnung aufgeben, da fast zeitgleich das „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ verabschiedet wurde. Dieses Gesetz hob den Mieterschutz für Juden auf und erlaubte unter anderem, sie innerhalb kürzester Zeit aus ihren Wohnungen zu vertreiben. Dass Leo in dieser Sonderkartei als Einzelperson steht, bestätigt eher die Annahme, dass er nicht verheiratet war. Es gibt darüber hinaus auch keine weiteren Hinweise auf eine Eheschließung. Leo hat in der Mommsenstraße 2 vermutlich bei einem der anderen jüdischen Bewohner zur Untermiete gewohnt.

Sein Bruder Max und dessen aus Angerburg stammende Frau Anna geb. Jaruslawsky hatten ebenfalls ihre Wohnung verlassen müssen und waren bei der Witwe Joseph in der Hohenstaufenstraße 36 zur Untermiete eingewiesen worden. Die drei Kinder des Ehepaares hatten Nazideutschland durch Flucht ins Ausland inzwischen verlassen können, Eva lebte in Neuseeland, Ulla in Brasilien und der Sohn Erwin emigrierte über England nach Australien. Unter dem Druck der Verfolgung und der Trennung von ihren Kindern starb Anna Radinowski am 1. Dezember 1941 an Herzversagen.

Geburtsanzeige Radinowski

Leo Radinowski wurde nun bei seinem Bruder Max in der Hohenstaufenstraße zur Untermiete bei Joseph einquartiert. Von dort wurden die beiden Brüder am 3. Februar 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert.

Auch die anderen Geschwister Radinowski wurden im Holocaust ermordet.

Ida Liepolz lebte mit ihrem Mann Chaim und den Kindern Ruth (*1926), Margot (*1928) und Heinz (*1931) in Calbe an der Saale. Chaim Lipolz verstarb im Januar 1940. Ida und ihre 3 Kinder wurden am 14. April 1942 von Magdeburg aus in das Warschauer Ghetto deportiert, wo sie unter ungeklärten Umständen ums Leben gebracht wurden.

Hermann und seine Frau Johanna geb. Winkler, wurden am 15. August 1942 zusammen mit ihren Kindern, dem 7jährigen Lothar und der 10jährigen Eva, nach Riga verschleppt und drei Tage nach Ankunft ermordet.

Die ledig gebliebenen Schwestern Anna und Lina waren zuletzt in der Alten Schönhauser Straße 58 untergebracht. Zuvor wohnten Anna und ihre 1940 verstorbene Mutter Berta in der Gipsstraße 12 a, in dem Haus, in dem sich bis 1904 das Rabbinerseminar der Israelitischen Synagogengemeinde Adass Jisroel befunden hatte. Von ihrer Unterkunft in der Schönhauser Straße aus wurden die Schwestern am 29. Januar 1943, vier Tage vor ihren Brüdern Leo und Max nach Auschwitz deportiert.

Albert hatte sich mit seiner Familie in Angerburg niedergelassen. Ihm gehörte dort ein Schuhgeschäft. Der ehemalige Angerburger Gerhardt Freund erinnert sich 1966 an ihn:

Angerburger Heimatbrief 1966

Angerburger Heimatbrief 1966

Eins seiner vier Kinder, den 1907 geborenen Sohn, benannte er nach seinem Bruder Leo. Aus dieser Familie konnten zwei Töchter, Cella und Gerda, und der Sohn Leo durch Flucht ins Ausland ihr Leben retten, Selmas Schicksal und das ihrer Eltern Albert und Paula ist unbekannt.

Das Schicksal von Leo Radinowski und seinen Geschwistern zeigt, wie der Rassenwahn der Nationalsozialisten nahezu die gesamte Generation einer Familie auslöschte und nur wenige Familienmitglieder sich durch Flucht nach Übersee retten konnten.

Recherche und Text: Karin Sievert

Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945
Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Landesarchiv Berlin: WGA, Sterbeurkunden
Bundesarchiv: Deportationslisten
Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“
Stadtarchiv Schönebeck (Elbe)
Yad Vashem – Opferdatenbank
Erinnerungen von Gerhardt Freund in: „Angerburger Heimatbrief 1966“
genealogienetz.de: Familiendatenbank Juden im Deutschen Reich